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Auswirkungen der neuen Vertikal-GVO auf selektive und exklusive Vertriebssysteme

Allein auf weiter Flur – oder doch nicht?

Das Kartellverbot des Art. 101 AEUV umfasst auch vertikale Vereinbarungen, das heißt Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die nicht auf der gleichen Marktstufe tätig sind. Mit der Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (Vertikal-GVO) und den dazugehörigen Vertikalleitlinien nimmt die Kommission einige Gruppen von vertikalen Vereinbarungen aus dem Kartellverbot heraus. Ziel ist es, den Unternehmen mehr Rechtssicherheit - einen sogenannten safe harbor - zu geben. Da die Vertikal-GVO und die dazugehörigen Leitlinien von 2010 nur befristet gelten, steht eine Reform an. Die neue Vertikal-GVO („Vertikal-GVO-E") und die neuen Vertikalleitlinien („Vertikalleitlinien-E") sollen ab dem 01.06.2022 gelten.

Es bleibt wie bisher dabei, dass Alleinvertriebssysteme und Selektivvertriebssysteme freigestellt sind, wenn sowohl der Anbieter als auch der Abnehmer auf seinem Markt nicht mehr als 30 % Marktanteil hält und die Vereinbarungen keine Kernbeschränkungen im Sinne des Art. 4 Vertikal-GVO (alt und neu) enthalten.

Alleinvertriebssysteme

Eine Neuerung in der Vertikal-GVO-E, die neue Spielräume öffnen könnte, ist eine Erweiterung in der Definition der Alleinvertriebssysteme. Denn Alleinvertriebssysteme erfassen nach Art. 1 g) der Vertikal-GVO-E – anders als zuvor - nicht mehr nur exklusive Vertriebssysteme, bei dem ein Abnehmer ein Gebiet oder eine Kundengruppe zugeordnet ist. Vertriebssysteme können auch die Freiräume für Alleinvertriebssysteme nutzen, wenn einem Gebiet oder einer Kundengruppe mehrere Anbieter exklusiv zugewiesen sind (sogenannter geteilter Alleinvertrieb). Voraussetzung ist, dass die Zahl der Abnehmer so begrenzt ist, dass ein ausreichendes Geschäftsvolumen gesichert ist. In diesem Gebiet stehen die Abnehmer zueinander im freien Wettbewerb. Dies kann auch nicht im Rahmen des geteilten Alleinvertriebs eingeschränkt werden. Anderen Abnehmern, die einem anderen Gebiet oder einer anderen Kundengruppe zugeordnet sind, werden jedoch (wie bisher) aktive Verkaufsbeschränkungen auferlegt, um das Geschäftsvolumen nicht zu gefährden und damit die getätigten Investitionen des Abnehmers zu schützen.

Bislang ist unklar, bei welcher Anzahl an Vertragshändlern ein Vertriebssystem noch als „geteilter Allgemeinvertrieb” eingestuft werden kann. Da die Regeln bezüglich Alleinvertriebssystemen aber eine Ausnahme zu den Kartellrechtsregeln für vertikale Vereinbarungen darstellen, ist diese Ausnahme restriktiv auszulegen. Abhängig vom zu erwartenden Geschäftsvolumen dürfte nur eine Aufteilung unter wenigen Anbietern zulässig sein.

Neu ist, dass Alleinvertriebsvereinbarungen bislang nur zwischen Hersteller und Abnehmer zulässig waren. Aktive Verkaufsbeschränkungen zwischen dem Abnehmer und dessen Kunden, die ebenfalls Vertragshändler waren, konnten nicht weitergegeben werden. Um mehrstufige Vertriebssysteme nicht zu benachteiligen, wird es nun gemäß Art. 4 lit. b) ii) Vertikal-GVO-E möglich sein, aktive Verkaufsbeschränkungen in andere Vertriebsstufen weiterzugeben.

Selektive Vertriebssysteme

Die Regelungen zu selektiven Vertriebssystem erfahren durch die Vertikal-GVO-E keine tiefgreifenden Änderungen. Selektive Vertriebssysteme sind gemäß Art. 1 Abs. 1 lit. h) Vertikal-GVO-E solche Vertriebssysteme, in denen sich der Hersteller verpflichtet, die Vertragswaren oder -dienstleistungen unmittelbar oder mittelbar nur an Händler zu verkaufen, die anhand festgelegter Merkmale ausgewählt werden, und in denen sich diese Händler verpflichten, die betreffenden Waren oder Dienstleistungen nicht an Händler zu verkaufen, die innerhalb des vom Hersteller für den Betrieb dieses Systems festgelegten Gebiets nicht zum Vertrieb zugelassen sind. Die vom Hersteller für die Auswahl der Händler angewandten Kriterien können qualitativer oder quantitativer Art sein.

Gemäß Rn. 134 der Vertikalleitlinien-E bleibt es dabei, dass Selektivvertriebssysteme, die die sogenannten Metro-Kriterien erfüllen, nicht unter das Kartellverbot von Art. 101 Abs. 1 AEUV fallen: Die Selektionskriterien müssen aufgrund der Beschaffenheit der angebotenen Ware oder Dienstleistung zur Wahrung der Qualität und zur Sicherstellung des richtigen Gebrauchs notwendig sein. Die Selektionskriterien müssen objektive und qualitative Anforderungen an Vertragshändler festlegen. Und die festgelegten Kriterien dürfen nicht über das für die Erreichung der vorstehenden Anforderungen Erforderliche hinausgehen.

Die Regelung selektiver Vertriebssysteme in der Vertikal-GVO-E erfährt eine redaktionelle Überarbeitung, in dem die bisherigen Regelungen in Art. 4 lit. b) Vertikal-GVO nun in drei Absätzen – Art. 4 lit. b), c) und d) Vertikal-GVO-E – formuliert werden. Ob sich der Zugang zu diesen Regelungen dadurch verbessert, ist zweifelhaft. Es sei jedem überlassen, sich hierzu selbst eine Meinung zu bilden.

Aktiver Vertrieb und Sprache

Nach Art. 1 lit. l) Vertikal-GVO-E fällt es nun auch unter den aktiven Vertrieb, wenn ein Anbieter eine Website in einer Sprache betreibt, die üblicherweise nicht in seinem Gebiet gesprochen wird. Auch das Anbieten einer Website mit einem Domain-Namen eines anderen Gebietes als dem, in dem der Händler niedergelassen ist, stellt einen aktiven Verkauf dar. Vertragshändler, die Beschränkungen hinsichtlich des aktiven Verkaufs unterliegen, sollten kontrollieren, ob die Sprachoptionen (nur) ihrem Niederlassungsgebiet entsprechen.

Dr. Christian Müller

Rechtsanwalt

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